Systematische Theologie

Burkhard Neumann / Jürgen Stolze (Hg.): Jesus Christus

Burkhard Neumann / Jürgen Stolze (Hg.): Jesus Christus – Sohn Gottes und Erlöser. Freikirchliche und römisch-katholische Perspektiven, Paderborn: Bonifatius, 2021, Pb., 268 S., € 20,–, ISBN 978-3-8971-0895-0


Kann, darf, sollte man heute noch vom Sühnetod Jesu reden? Dieser Frage ging das neunte Symposium römisch-katholischer und freikirchlicher Vertreter/innen (FEG, Mennoniten, Herrnhuter Brüdergemeine, BFP und Methodisten) im Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn nach. Schon vorher wurde Gott Vater thematisiert, 2021 in Heute von Gott reden. Freikirchliche und römisch-katholische Perspektiven (258 S.). 2022 schloss Wir glauben an den einen Geist – Das Wirken des Heiligen Geistes aus freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht die trinitarischen Gespräche ab (242 S., jeweils dieselben Herausgeber und Verlag; mehr dazu am Ende dieser Rezension).

Im hier vorliegenden Buch finden sich zwölf Beiträge, die sich auf Jesus als Sohn Gottes und Erlöser fokussieren. Benjamin Dahlke gibt kirchengeschichtliche Einblicke in das intensive Ringen um Verständnis von Menschlichkeit und Göttlichkeit Jesu. Die Ergebnisse finden sich in den altkirchlichen Bekenntnissen. Er fragt für heute: „Wie kann ein christologischer Entwurf … sowohl schrift- und bekenntnis- als auch zeitgemäß sein?“ (59). Sprache und Bedeutung mancher Begriffe veränderten sich, so dass ein bloßes Rezitieren allein wenig bringt. Haben Apostolikum und Co ausgedient? Nein, so Dahlke. Durch sie stärken wir Gemeinschaft, denn wir bekennen gemeinsam mit denselben Worten wie unsere geistlichen Vorfahren. Auch wurde durch sie Lehre gebildet und werden Kernpunkte christlichen Glaubens weitergegeben. Die Bekenntnisse sind also Verantwortung und Chance zugleich, den bleibenden Sachgehalt in neuer Sprachgestalt zu erklären. Die römisch-katholische Kirche integriert altkirchliche Bekenntnisse (Nizäa, Chalcedon…) selbstverständlich. Spielen diese in Freikirchen eine Rolle? Auch hier finden sie Erwähnung, teils namentlich, mindestens inhaltlich, arbeitet Markus Iff in seinem Beitrag heraus.

Thematischer Schwerpunkt der meisten Beiträge ist jedoch die „Sühnetheologie“. Verbindet man den Tod von Jesus als Opfer nicht schnell mit von Harnacks Karikatur der Satisfaktionslehre Anselms von Canterbury mit einem verletzten Gott, der Genugtuung braucht und ein Menschenopfer verlangt? Ausgeprägt ist die Kreuzeschristologie bei der Herrnhuter Brüdergemeine. Peter Vogt stellt sie vor und gleichzeitig fest, dass auch hier heute vermehrt andere Aspekte (mit)betont werden, z. B. die Auferstehung. Einen nahezu als Bruch zu definierenden Wandel ergibt eine Analyse des EKD-Grundlagentextes Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi (Gütersloh: Gütersloher, 2015, ekd.de/ekd_de/ds_doc/fuer_uns_gestorben2015.pdf). Nach Bernhard Olpe werden Facetten des von Jesus erwirkten Heils dargestellt, das wie bleibt jedoch unbeantwortet. Der Kreuzestod wird unter Gesichtspunkten wie der Solidarität mit den Leidenden verbucht, Begriffe wie „Gerechtigkeit Gottes“ neu (um)definiert. Es entstehe eine Sicht auf das Kreuzesgeschehen, die „sich weder mit der Schrift noch den Bekenntnisschriften in Einklang bringen lässt“ (224). Was tun? Zurück zu den Wurzeln! Der Tod Jesu wird nach Mitherausgeber Jürgen Stolze zentral mit dem Sühnopfer im Alten Testament verbunden, vor allem „unter freikirchlichen Christenmenschen“ (75). Diese Engführung scheint mir, auch im Blick auf die von Alexander Saberschinsky dargelegte römisch-katholische Eucharistiefeier, erklärungsbedürftig. Stolze gibt einen Überblick verschiedener Opferarten des Alten Testaments und zeigt, dass Opfer der Ort der Gottesbegegnung sind, die Gott selbst ermöglicht. Beim Sühnopfer ging es nie um den Versuch, einen wutschnaubenden Gott wieder zu besänftigen. Sünde sei ein „Missstand“ (88) und Opfer die gottgegebene Möglichkeit, diesen zu überwinden. Der Verf. spricht zwar von Gemeinschaft, doch mir scheint, diese ist eher sachlich definiert. Vereinfacht formuliert: Der Mensch gerät bei Gott ins Minus und Gott gibt die Möglichkeit, dieses ausgleichen. Der relationale Aspekt eines wirklichen Beziehungsbruchs kommt mir etwas zu kurz.

Robert Vorholt zeichnet eine „Skizze zur neutestamentlichen Sühne- und Stellvertretungstheologie“ (99–117). Er will klären, wie von Jesus als stellvertretendem Sühnopfer gesprochen werden kann, ohne dahinter einen blutrünstigen Gott sehen zu müssen. Das Neue Testament selbst zeichnet durchaus facettenreicher und unmissverständlicher, wie der Verf. in zwei Punkten (der Gekreuzigte als Sühneort und als Hohepriester) darlegt. Fazit: Kein grausamer Gott, dem die Menschen ein Opfer bringen müssen, sondern ein sich selbst für die Menschen opfernder Gott. Deswegen gilt: „Das lodernde Feuer der Kritik, in das die biblisch verortete Rede vom Opfer Jesu … geraten ist…, verlangt nach einem redlichen Rechenschaftsbericht der Exegese“ (112f). Der relationale Aspekt des Kreuzesgeschehens ist dann vielleicht tatsächlich bei den Freikirchen ausgeprägter. Andrea Lange untersucht verschiedene freikirchliche Bekenntnistexte (Baptisten, Adventisten, Mennoniten) und kann so herausarbeiten, dass die persönliche Entscheidung zur Annahme des Gottesgeschenks in Jesus zentral ist. Sie kommt auch auf die sog. Narrative Christus Victor Theorie zu sprechen, die auf den mennonitischen Pastor J. Danny Weavers zurückgeht. Seiner Meinung nach war der Tod Jesu unvermeidbar, weil es ja die Auferstehung braucht. Aber Gott Vater wollte den Tod seines Sohnes nicht. Vielmehr gehe es in Leben und Tod Jesu um die gewaltfreie Herrschaft Gottes. Hier hätte ich mir eine Bewertung der Verf. gewünscht.

Interessanterweise gibt es kaum eine römisch-katholisch lehramtlich festgelegte Definition vom Kreuzestod. Burkhard Neumann schließt daraus: Der Tod Jesu zum Heil der Menschen ist für Glaube und Lehre so grundlegend, dass dies schlicht nie notwendig war. Einzelne Akzente mögen unterschiedlich diskutiert werden (z. B. Gnade und Freiheit), die röm.-kath. Soteriologie bewegt sich doch im großen Rahmen von Erschaffung des Menschen zum Heil, seinem Fall und der Erlösung durch Christus, die dem Menschen Freiheit, Gotteskindschaft und verändertes Leben ermöglicht. Die spannende Herausforderung sieht er in Fragen nach Erlösung und sozialer Gerechtigkeit sowie nach Erlösung der ganzen Schöpfung.

Fazit des Symposiums: „Trotz heutiger Verständnisschwierigkeiten kommen wir … von der Rede von Jesus Christus als Heiland und Erlöser, von Opfer und Sühne nicht los.“ (251). Die gemeinsam bleibende Herausforderung ist, wie Jesus als Heiland und Erlöser den Menschen heute möglichst verständlich erklärt werden kann. Diese allerdings lässt sich bei allem menschlichen Bemühen wohl immer nur teilweise meistern, wie der Apostel Paulus schon erkannte (1Kor 1,18).

Die Beiträge sind nicht kämpferisch geschrieben, sondern erklärend aus verschiedenen Perspektiven. Vielleicht liegt genau darin ihre Kraft, nicht schon beim Hören/Lesen widersprechen zu wollen, sondern die eigene Sicht zu reflektieren und im Blick auf die des Anderen „Aha-Erlebnisse“ zu ermöglichen. Durch seine Beitragsform liest sich das Buch flüssig. Literaturangaben, weiterführende Erklärungen/Hinweise finden sich in den Fußnoten des jeweiligen Beitrags. An jedem Artikelende findet sich eine prägnante Zusammenfassung. Am Buchende sind Autorenspiegel, Abkürzungsverzeichnis und Aufzählung der bisher stattgefundenen Gespräche zu unterschiedlichen Themen gelistet. Das anfangs erwähnte Buch mit Beiträgen zum Wirken des Heiligen Geistes ist gleich aufgebaut. Es behandelt neben historisch-pneumatologischen Entwicklungen unter anderem die Themen Geist und Heil, Geistwirken in Liturgie und Unterscheidung der Geister aus unterschiedlichen konfessionellen Perspektiven. Da es sich um das zehnte Symposium handelte (in 20 Jahren), wird in einem Beitrag aus evangelisch-lutherischer Außensicht lesenswert Rückschau auf die Historie sowie die Gespräche an sich gehalten.


Michael Schwantge, Gemeinschaftspastor in Oppenheim